Eine weit verbreitete Volksweisheit besagt, dass man den Leuten nur vor den Kopf gucken kann. Das mag für das unbewaffnete Auge des blutigen Laien Gültigkeit haben, aber ganz sicher nicht für ausgeschlafene und intelligente Marketing-Profis. Denn mit der Hilfe Bild gebender Verfahren, die der medizinischen High-Tech-Diagnostik entlehnt sind, ist es sehr wohl möglich, dem potenziellen Kunden durch die Stirn direkt ins ratternde Denkzentrum zu blicken. Das Zauberwort hierzu heißt: Neuromarketing. Und die umsatzfördernden Ergebnisse dieser interdisziplinären wissenschaftlichen Geheimwaffe treffen garantiert den Nerv der anspruchsvollen und verwöhnten Klientel.
Wie macht angewandte Neurowissenschaft Konsumhaltungen sichtbar?
Die unterschiedlichen Hirnareale nehmen beim Menschen verschiedene und recht trennscharf differenzierte psychoemotionale Aufgaben wahr. Dabei lässt sich die neuronale Aktivität – zum Beispiel die des Lustzentrums – sehr gut an der Durchblutungsrate und an der Stoffwechselaktivität des jeweiligen Funktionsgebietes bemessen. Denn im Gehirn werden immer bevorzugt jene Systeme gut und reichlich mit frischem Blut versorgt, die aktuell kräftig arbeiten müssen. Mit der Hilfe moderner apparativer Neurodiagnostik (beispielsweise der Magnetresonanztomografie, kurz MRT) lässt sich dementsprechend darstellen, welche stark agierenden Hirnareale gerade wie die Christbäume leuchten, während momentan ungenutzte Flächen im Stand-By-Modus dunkel vor sich hindümpeln. Jetzt muss man nur noch wissen, in welchem Teil des Gehirns welche Emotionen entstehen, und wo das motivbildende Abwägen passiert, das zur Handlung in Form einer Kaufentscheidung führen könnte. Und schon kann man einen potenziellen Kunden zu seinen Vorlieben und Abneigungen befragen, ohne dass der Proband dazu den Mund aufmachen müsste, oder gar bei den Antworten „schummeln“ könnte. Merke: Hirnaktivitäten lügen nicht!
Eine typische Untersuchungsanordnung
Der freiwillige Versuchsteilnehmer wird zu einer MRT-Untersuchung einbestellt. Allerdings wird hier nicht nach neurologischen Störungen gefahndet, sondern nach ganz normalen eindeutigen psychologischen Reaktionen auf dargebotene Sinnesreize. Das könnte so aussehen, dass dem Probanden verschiedene Produkte bzw. Marken visuell präsentiert werden, und dann festgestellt wird, welche Hirnareale in welcher Form auf diese optische Wahrnehmung reagieren. Zeigt sich bei so einer Versuchsanordnung, dass der Proband beim Anblick eines bestimmten Markenproduktes seinen medialen Präfrontal-Cortex leuchtend hochfährt, so ist der Rückschluss erlaubt, dass hier gerade eine ganz besonders positive Identifizierung eines Menschen mit (s)einer Marke auf dem Schirm sichtbar geworden ist. Was hier gerne gesehen wurde, würde wohl auch gerne gekauft werden. Solche und ähnliche Befunde kann man zur Schärfung und Profilierung von Werbung verwenden, aber auch für eine optimale Produktpräsentation am POS heranziehen. Oder zur Überprüfung und Evaluierung des Fortschritts der Etablierung einer speziellen Markenpersönlichkeit nutzen. Generell sind Ergebnisse aus solchen Untersuchungen für viele Fragestellungen angewandten und praxisorientierten Marketings eine Quelle spannender Inspirationen.
Sind solche Befunde denn wirklich aussagefähig? Das hängt davon ab,
- wie präzise man die Fragestellung formuliert,
- wie sorgfältig man die Versuchspersonen aussucht,
- wie „sauber“ man die Untersuchungsanordnung plant und fährt,
- wie abbildungsstark der neurologische Diagnoseapparat arbeitet und
- wie behutsam man die gewonnenen Laborbefunde auf das wahre Leben überträgt.
Grundsätzlich gilt für die Versuchsplanung im Neuromarketing die alte Weisheit vom „Weniger ist mehr“. Je komplizierter und verschachtelter man seine quasiexperimentellen Fragen stellt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die teuer erhobenen Daten nicht viel mehr als ein allgemeines Rauschen im Synapsenwald abbilden. Werden dagegen knackscharf ausgearbeitete Stimuli dargeboten, wächst die Chance, dass sich im arbeitenden Gehirn der Versuchsperson ein ebenso aussagefähiges wie kontrastreiches Bild ergibt. Doch auch in diesem wissenschaftlich wünschenswerten Fall müssen die Daten nicht unbedingt den Sprung aus dem Labor in die Wirklichkeit schaffen. Denn wenn ich eine Marke oder ein Produkt auch als extrem sympathisch und ich-synton empfinden mag, so heißt das noch lange nicht, dass ich es mir auch tatsächlich kaufen würde. Vielleicht habe ich nicht gar nicht das Geld oder die Gelegenheit, meine prinzipiell positive Emotionalität in eine tatsächliche Erwerbshandlung zu transformieren. Oder vielleicht mag ich die Marke, habe aber darüber hinaus keinerlei Bedarf an dem Produkt, der in einen Kauf münden würde. Das A und O bei Untersuchungen im Bereich des Neuromarketing sind eine wasserdichte Versuchsplanung, eine professionelle und von sämtlichen Stör- und Fehlerquellen möglichst befreite Versuchsdurchführung sowie eine intelligente und kritische Würdigung und Diskussion der gewonnenen Daten. Oder anders gewendet: Neuromarketingstudien gehören ausschließlich in die Hände ausgebildeter Wissenschaftler, die interdisziplinäres Arbeiten schätzen und beherrschen. Dann allerdings liegt der gläserne Konsument vor dem Auge des Forschers wie eine geöffnete Schatztruhe.
Ist Neuromarketing nicht prinzipiell sittenwidrig?
Selbstverständlich zielt Neuromarketing, wie jedes andere Marketingkonzept auch, auf den Geldbeutel konsumangeregter Verbraucher, nur eben als High-Tech-Edelvariante auf der aktuellen Höhe unserer modernen technischen Möglichkeiten. Wer den direkten Blick in den Kopf der Konsumenten als verwerflich empfindet, der möge also bitte bedenken, dass die Zeit nun mal nicht stehen bleibt, und dass es Werbung schon in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gegeben hat und auch in Zukunft geben wird. Außerdem ist Neuromarketing nun wirklich keine Geheimwissenschaft, die dem arglistig belauerten kleinen Mann auf der Straße verschlossen bliebe und unzugänglich wäre. Ein kurzes googeln zum Suchstichwort „Neuromarketing“ zeigt sehr deutlich, dass aufgeklärte Verbraucher sich hier durchaus kompetent informieren können. Was natürlich auch die Chance mit einschließt, das frisch erworbene Wissen für die eigenen persönlichen Ziele und Zwecke einzusetzen.
Buch macht kluch
Wer jetzt deutlich mehr zum Thema wissen will, kann seine neugierige Nase in das Buch „Kauf mich!“ von Dr. Hans-Georg Häusel (1. Auflage 2013, ISBN 978-3-648-03559-7) stecken – und bunt schillernde Psychobauklötze staunen.
Ich persönlich möchte mich an dieser Stelle mit einem meiner Lieblingszitate des Computerwissenschaftlers Emerson Pugh verabschieden. Er sagte:
„Wenn das menschliche Gehirn so simpel wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so simpel, dass wir es nicht könnten.“
Sie können den Artikel Neuromarketing – Einblicke in das Kopfkino von Käufern und Konsumenten herunterladen (PDF, 75 KB).
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